Orte des Friedens im Kleinen

Orte wo man einfach sein darf, wie man ist, solche Orte braucht unsere Welt dringend.

"Anna!", ruft mir ein kleines syrisches Mädchen aus der Nachbarschaft zu, als ich durch den Braunhuberpark zu meinem nächsten Berufstermin sause. Sie rennt auf mich zu und umarmt mich. Wir kennen uns vom Warmen Platzerl. Sie kommt regelmäßig mit ihren älteren Geschwistern zu uns. Wir essen und spielen gemeinsam. Andere sind auch da. Der neunzigjährige Niki aus der betreuten WG des Samariter Bundes, Alireza aus dem Iran und Majid aus Syrien.

Die Simmeringer Jugend sitzt mit Mario an einem Tisch und spielt Uno. Mario ist neunundachtzig; er genießt es, mit den Jugendlichen Zeit zu verbringen. Daheim hat er niemanden. Lucia und Clara sind auf der Suche nach einer Wohnung, es klappt leider nicht. Auch sie kommen regelmäßig. Clara hat vor kurzem ihren Sechziger im Warmen Platzerl gefeiert. Unser Nachbar, Bäcker Robert, hat für sie extra eine Schwarzwälder-Kirschtorte gebacken. Ihre strahlenden Augen im Licht der Sprühkerze werde ich nie vergessen.

Jeden Sonntag öffnen wir die Tore unserer Kirche für alle Menschen, die kommen wollen. Junge, Alte, Menschen mit oder ohne österreichischen Reisepass, Menschen mit oder ohne Behinderung. Sie essen, spielen, singen und reden miteinander. Sie erzählen uns ihre Sorgen und wir versuchen sie, wenn es möglich ist, zu unterstützen und die ersten Schritte mitzugehen. Unsere Gäste zeigen uns auch ihre Talente, die sie für die Gemeinschaft mit den anderen einbringen können.  Die Simmeringer Glaubenskirche wird dadurch lebendig. Menschen, die ursprünglich über die „bösen Ausländer“ geschimpft haben, sitzen an einem Tisch mit jungen Männern, die beim Kartenspiel ihr Deutsch verbessen wollen. Letztens ist ein junger Mann während des Warmen Platzerls zu mir gekommen und hat sein Bedürfnis nach einem Gebet geäußert. So haben wir uns in die leere Kirche gesetzt und bei Kerzenlicht gebetet und geweint. Ich spürte in diesem Moment, dass sich Himmel und Erde berühren. Es fühlt sich immer wieder so an wie in dem bekannten Kirchenlied von Thomas Laubach: „Da berühren sich Himmel und Erde, dass Frieden werde unter uns.“

Die Welt braucht dringend solche Orte. Orte des Friedens im Kleinen, wo man einfach sein darf, wie man ist. Ohne eine Leistung erbringen zu müssen, ohne auf irgendwelche vermeintlichen Defizite reduziert zu werden. Der „große wirkliche Frieden“ ist leider immer noch ein Traum. Auch bei uns in Europa gefühlt in weiter Ferne. Aber der kleine, der fängt dort an, wo ich bin. „Frieden beginnt mit einem Lächeln.“, hat angeblich Mutter Theresa einmal gesagt.

Ich sehe das fröhliche Gesicht des kleinen syrischen Mädchens vor mir; es öffnet ihre Arme ganz weit und schließt mich in sie ein. In seiner kleinen Hand zerdrückt es ein schmelzendes Schokokeks. „Für Dich, Anna.“, sagt es und reicht mir dabei die offene Hand. „Danke.“ Ich spüre, wie die erste Träne auf meiner Wange runterrollt. Es ist ein Geschenk, hier zu sein. Da und jetzt.

Wo Menschen sich vergessen, die Wege verlassen. Und neu beginnen, ganz neu. Da berühren sich Himmel und Erde, dass Frieden werde unter uns, da berühren sich Himmel und Erde, dass Frieden werde unter uns.

Anna Kampl
ist Pfarrerin in einer kleinen evangelischen Pfarrgemeinde in Simmering (in der Vorstadt Wiens).
Die Schwerpunkte ihrer Arbeit sind gelebte Diakonie und Inklusion.