Ja, sie darf das.

Gen Z und die religiösen Transformationen im digitalen Raum und in der Stadt.

Hanna (Name von der Redaktion geändert) ist evangelisch und sagt von sich, dass sie sich ihrer Gemeinde besonders aufgrund der Leute verbunden fühlt. Mit den Freunden, die sie dort hat, besucht sie, wenn auch nicht jeden Sonntag, so doch immer wieder, die Gottesdienste. Mindestens genauso wichtig wie die religiöse Praxis in der Kirche ist für sie aber auch ihr gesellschaftliches Engagement. ...

Religions for Equality - Foto: © Glaubenskirche

Letztes Jahr war sie auf der Vienna Pride und ging als Teil von Religions for Equality mit Personen ganz unterschiedlicher Glaubensrichtungen für die Rechte und die Sichtbarkeit von LGBTIQ+ Personen auf die Straße. Konservative Kräfte, sowohl in ihrer als auch in anderen religiösen Gemeinden, meinen, so eine Haltung sei unvereinbar mit den Grundsätzen der Religion. Aber Hannah ist sich sicher, sie darf das. Ohne jeden Zweifel.

Ohne Social Media wäre sich Hannah in ihrer Position vielleicht unsicherer gewesen, überlegt sie. Vielleicht hätte sie es sogar auch als unvereinbar wahrgenommen, sich für bestimmte soziale und politische Anliegen einzusetzen und gleichzeitig religiös zu sein. Aber im entgrenzten digitalen Raum gibt es viele Menschen, die einen ähnlichen Blick auf Religion und politische Themen haben und die hier gar keinen Widerspruch erkennen. Diese sagen auch: Den eigenen Selbstwert als Frau nur aus Enthaltsamkeit und Jungfräulichkeitskult ziehen? No way! Von einem christlichen Fundament ausgehend Stellung beziehen zu Fragen der Zeit und „sex positivity“? Schon eher. Influencer:innen wie @godisgrey oder @ja.und.amen machen vor, wie der Umgang mit solchen Themen, die Jugendliche bewegen, gelingen kann und zwar ausgehend von einem religiös unterfütterten Wertefundament.

Menschen wie Hannah, die sich weniger Sorgen um das strikte Befolgen all der Regeln ihrer Religionsgemeinschaft machen, sondern die sich um eine aus ihrer Sicht authentisch und wahrhaftig gelebte religiöse Haltung im Alltag bemühen, sind uns einige im Rahmen des YouBeOn-Projekte Projektes begegnet. Das ursprüngliche Interesse hinter diesem Forschungsprojekt lag darin, zu verstehen, was das vielfältige Angebot an religiösen Inhalten in den sozialen Medien (insbesondere Instagram) mit der religiösen Praxis junger Menschen offline macht. Dafür führten wir Gespräche mit 41 jungen religiösen Menschen aus sieben unterschiedlichen Religionstraditionen (Alevitentum, evangelisches, katholisches und orthodoxes Christentum, Islam, Judentum und Sikhismus). Die Gespräche kreisten dabei um die Fragen, wie die Religion offline gelebt wird und welche Rolle Religion in den Onlineaktivitäten der Teilnehmer:innen spielt. Die enorme Vielfalt der Stimmen, die wir in diesem Projekt sammeln durften, kann über die YouBeOn App erkundet werden. Drei Ebenen (eine geographische Ebene – eine Ebene der Accounts – eine Ebene der Ideen) ermöglichen es, etwas über das religiöse Leben der Projektteilnehmer:innen zu erfahren, und bietet so einen persönlichen Snapshot in die online und offline Religionslandschaften junger, religiöser Wiener:innen.

So wie Hannah haben sich viele Jugendliche religiösen Input unter anderem aus sozialen Netzwerken wie Instagram geholt. Neben religiösen Meme- und Lifestyle-Seiten, den Accounts religiöser Organisationen und Accounts, die religiöse Zitate posteten, waren auch religiöse Influencer:innen ein wichtiger Teil dieser digitalen Religionslandschaft. Schnell stellte sich für uns Forschende heraus: Religiöse Offline-Autoritäten sind dort nicht die Stimmen, die die wesentlichen religiösen Inhalte liefern, die unsere Teilnehmer:innen konsumieren. Scheinbar eignet sich weder ein Auftritt wie jener von Papst @Franciscus (professionell und aufwendig gemacht, aber dennoch unnahbar), noch jener von @bischofmichaelchalupka (recht persönlich, aber auch etwas beliebig), um religiöse Inhalte an junge Menschen heranzutragen. User:innen hingegen, die glaubwürdige Einblicke in die Komplexität ihres Glaubenslebens bieten und Positionen zu religiösen Streitthemen beziehen, scheinen – zumindest bei den Personen, mit denen wir gesprochen haben – in dieser Hinsicht beliebter zu sein. Die genaue religiöse Zuordnung, ob nun eine Influencerin katholisch oder protestantisch ist, scheint User:innen deutlich weniger zu interessieren als die generellen Themen und Blickwinkel, die von dem Account angesprochen und eingenommen werden. [1]

Zurück zu Hannah: Mit ihrer aus einer religiösen Position artikulierten, öffentlichen Parteinahme zu gesellschaftspolitischen Fragen (in diesem Fall zu den Rechten von LGBTIQ+ Personen), ist sie zwar eine Ausnahme unter unseren Teilnehmer:innen; was aber alle, mit denen wir gesprochen haben, gemein hatten, war ein individueller Zugang zum Glauben, wobei die Religion zu etwas „eigenem“, persönlichen gemacht wurde. Ihre religiöse Überzeugung basiert nicht auf einer ungebrochenen Weiterentwicklung der meist etwas naiven religiösen Vorstellungen der Kindheit, sondern umfasst stets etwas, was wir als „religiöse Adaption“ bezeichnen. [2] Junge Menschen, die von ihrer Religion auf die eine oder andere Weise überzeugt sind, setzen sich mit deren Inhalten und der Frage, wie man Religion in der Gesellschaft leben kann, auseinander. Und sie suchen sich dabei ihren eigenen Weg zum Glauben. Im Endeffekt haben sie sich für eine religiöse Praxis entschieden, die für sie passt. Konkret geht es dabei darum, der Religion einen bestimmten Platz im Alltag zuzuweisen. Dabei werden einerseits Aspekte der Religion, die einem persönlich wichtig waren, von weniger wichtigen unterschieden (z.B. die Einhaltung oder Nichteinhaltung gewisser Vorschriften). Andererseits geht es auch darum zu entscheiden, wie man die Religion in die Öffentlichkeit tragen möchte (z.B. indem man dem eigenen Umfeld davon erzählt oder sich für oder gegen religiös-assoziierte Kleidung entscheidet). Für Manche ist das, was für sie persönlich passt, ein tägliches Gebet. Für Andere ist es einfach eine bestimmte Grundhaltung gegenüber den Mitmenschen. Bei ganz Anderen wiederum zeigt sich die individuelle Adaption der eigenen Religion durch striktes Befolgen bestimmter Regeln oder in einem intensiven Praktizieren gewisser religiöser Handlungen. So vielfältig die Teilnehmer:innen unseres Projektes sind, so vielfältig sind auch ihre jeweiligen Wege, durch die sie ihre Religion zu etwas eigenem gemacht haben. Hannahs Weg ist dabei nur einer unter vielen.

Bei der Adaption der Religion kommt der Onlinewelt kommt die Funktion einer zusätzlichen Ressource zu, die junge Menschen in ihrem Weg bestärken kann, indem sie dort Informationen finden oder sich als Teil einer Gemeinschaft an ähnlich Gesinnten zu verstehen lernen. Die Mannigfaltigkeit des religiösen Onlineangebots ist dabei Fluch und Sehen zugleich; wo die Eine christliche Positionen zu einem positiven, feministischen Selbstverhältnis vorfindet, stößt der Andere auf chauvinistische Einstellungen, die die eigene Religion über andere erhebt und Menschen, die ihre Religion anders praktizieren, zu Abtrünnigen im Glauben erklärt. Soziale Medien wirken hier als Verstärker, die sowohl in progressive als auch in reaktionäre Richtungen wirken können. Das schier unendliche Onlinenagebot kann auch leicht in die Irre führen, denn nicht alles, was auf den ersten Blick unproblematisch wirkt, ist es auch wirklich.

Offline agierende religiöse Autoritäten können hier als eine Art Korrektiv wirken, denn im Allgemeinen konnten wir feststellen, dass religiösen Expert:innen, die unsere Teilnehmer:innen persönlich kennen (sei dies eine gelehrte Person, ein Familienmitglied oder ein:e Ferund:in), im Zweifelsfall mehr Glaubwürdigkeit beigemessen wird als Online-Prediger:innen und religiösen Influencer:innen. Online und offline gelebte Religiosität sind also nicht etwas, bei dem das eine das andere komplett ersetzen würde, sondern ergänzen sich gegenseitig. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass der religiösen Praxis vor Ort in der Gemeinde – selbst während der Coronazeit – ein sehr hoher Stellenwert beigemessen worden ist. Onlineangebote werden hier nur als schwacher Ersatz angesehen.

Wenn wir davon ausgehen, dass sich in dem hier beschriebenen Zugang junger Menschen zur Religion, der Verbindung von religiösem Online- und Offline-Input und der Stärkung individueller Zugänge zum Glauben etwas Neues zeigt, dann stellt sich die Frage, ob wir in den etablierten offline Institutionen – also herkömmlichen, religiösen Gemeinden – auch Veränderungen wahrnehmen können. In Gesprächen mit Vertreter:innen unterschiedlicher Gemeinden in Wien im Rahmen des spur.wien Projektes (spur steht für „Sichtweisen auf Plätze Urbaner Religionsvielfalt“), war davon tatsächlich wenig spürbar. Während der Pandemie neu eingeschlagene Wege, Religion auch im digitalen Raum zu vermitteln, wurden nach Corona wieder zurückgefahren. Kirchliche Angebote für Jugendliche die auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen aufgreifen mag es in Einzelfällen geben, waren unseren Teilnehmer:innen aber kaum bekannt. Stärkere Resonanz fanden Veranstaltungen von selbstorganisierten, religiösen Jugendgruppen wie die Muslimische Jugend Österreich oder auch die Jüdische Hochschüler:innenschaft, zu aktuellen politischen Themen. Nicht einer spezifischen religiösen Richtung zugeordnete Initiativen, die ein ähnliches Angebot bieten (z.B. Dialog Abraham in Wien), waren oft nicht sehr bekannt, möglicherweise auch, weil sich diese oft eher an ein akademisch gebildetes Publikum richteten. Gerade letztere Initiative bietet jedoch etwas, was sich ansonsten weder online noch offline finden ließ, nämlich eine Möglichkeit, um bewusst in den Austausch über Religionsgrenzen hinweg einzutreten. Generell wird deutlich, dass in von Jugendlichen und jungen Erwachsenen selbstorganisierten Gruppen Veränderungen schneller und aktuelle Themen selbstverständlicher aufgegriffen werden. Herkömmliche Institutionen, wie etwa Kirchengemeinden, scheinen hier tendenziell schwerfälliger zu reagieren.  

Wann sich für diese neuen Perspektiven auch in traditionelleren Gemeinden eine breite Offenheit und Verständnis durchsetzt, wird sich zeigen. Wichtig wäre dies auf jeden Fall. Denn auch wenn es in Anbetracht leerer werdender Kirchen erstaunlich klingen mag, viele junge religiöse Menschen schätzen prinzipiell offline gelebte Gemeinschaft und religiöse Praxis vor Ort. Uninteressant wird es für junge Menschen allerdings dann, wenn diese Gemeinschaften keine Wege bieten, durch die sie sich mit ihren Perspektiven und Interessen einbringen können, und sie sich nicht ernst- und wahrgenommen fühlen. Wenn religiöse Gemeinschaften diese Optionen nicht bieten, dann geraten sie immer stärker out-of-touch mit dem, was junge Menschen von „ihrer“ religiösen Gemeinschaft erwarten. Räume zu bieten für die vielfältigen Zugänge junger Menschen zu ihrem Glauben, wäre hier ein wichtiger erster Schritt. Denn junge Menschen sind sich sicher: Vielfältige Zugänge zum Glauben, wir dürfen das.

Christoph Novak ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Praktische Theologie der Universität Wien. Er forscht zu digitalen und urbanen Jugendkulturen, sozialer und religiöser Diversität, und der Transformation von Demokratie in der Migrationsgesellschaft.

 


[1] Novak, Christoph; Haselbacher, Miriam; Mattes, Astrid; Limacher, Katharina (2022). „Religious “Bubbles” in a Superdiverse Digital Landscape? Research with Religious Youth on Instagram” Religions 13, no. 3: 213. https://doi.org/10.3390/rel13030213

[2] Novak, Christoph; Mattes, Astrid; Haselbacher, Miriam; Limacher, Katharina (im Erscheinen): „Adapting my religion. How young believers negotiate religious belonging.” Social Compass.